Lichtgeschichten

Einblicke in zwei Jahrhunderte Lichttechnik und Beleuchtung

Wie George Carwardine dem Licht Flexibilität beibrachte
Sonntag, 30. November 2025

Wie George Carwardine dem Licht Flexibilität beibrachte

England in den frühen 1930er Jahren. In den staubigen Werkstätten und düsteren Büros dieser Zeit war die Beleuchtung oft eine starre Angelegenheit. Lampen hingen von der Decke oder standen fest auf Tischen, unflexibel und unnachgiebig. Wer Licht an einer bestimmten Stelle benötigte, musste sich zum Licht bewegen, nicht umgekehrt. Doch in Bath, einer Stadt, die eher für ihre römischen Bäder und georgianische Architektur bekannt war als für industrielle Revolutionen, tüftelte ein Mann an einer Idee, die nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Ästhetik des 20. Jahrhunderts nachhaltig verändern sollte. Sein Name war George Carwardine, und er war kein Lampendesigner, sondern ein Automobilingenieur.

Carwardine war spezialisiert auf Fahrzeugaufhängungen und Stoßdämpfer. Sein tägliches Brot war die Physik der Federn und Hebel, das Ausbalancieren von Kräften und Gewichten. In seiner Gartenwerkstatt experimentierte er an einem neuen Konzept für eine Fahrzeugaufhängung. Er suchte nach einem Mechanismus, der „konstante Spannung“ bot – eine Konstruktion, die sich leicht in jede Position bewegen ließ und dort verharrte, ohne zurückzuspringen oder abzusacken. Als er dieses Prinzip der perfekten Balance endlich gemeistert hatte, erkannte er schnell, dass er etwas weit Vielseitigeres als nur ein Autoteil erfunden hatte. Er hatte den mechanischen Arm perfektioniert und erkannte schnell, das sich die Konstruktion auch gut für Lampen eignete.

Im Jahr 1932 meldete Carwardine das Patent für einen Mechanismus an, der die Funktionsweise des menschlichen Arms imitierte. So wie Muskeln und Sehnen unsere Gliedmaßen gegen die Schwerkraft halten, nutzten Carwardine’s Lampen Federn, um das Gewicht des Lampenschirms und der Arme auszugleichen. Das Ergebnis war eine Leuchte, die auf die sanfteste Berührung reagierte. Man konnte sie ziehen, drehen, neigen und strecken – und sobald man losließ, fror sie in genau dieser Position ein. Keine Klemmschrauben, keine Arretierungen, pure Physik in Harmonie. Die Anglepoise war geboren.

Die erste Version, das Modell 1208, war ein vierfedriges Industriemonster, das für Fabriken und Werkstätten gedacht war. Sie war funktional, robust und völlig schmucklos. Doch Carwardine erkannte das Potenzial für den häuslichen Markt. Er lizenzierte sein Design an Herbert Terry & Sons, einen renommierten Federnhersteller in Redditch. Die Terrys wussten alles über Federn, was es zu wissen gab, und gemeinsam verfeinerten sie das Design. 1935 erschien das Modell 1227. Es hatte drei Federn, einen schwereren Sockel und eine etwas gefälligere, wenn auch immer noch streng industrielle Ästhetik. Dieses Modell sollte zur Ikone werden.

Das Design der Anglepoise-Lampe ist ein Paradebeispiel für den Grundsatz „Form follows Function“. Jedes Bauteil, jede Feder, jede Niete hat einen technischen Zweck. Es gibt kein unnötiges Ornament. Und doch – oder gerade deswegen – entwickelte die Lampe eine ganz eigene, fast anthropomorphe Persönlichkeit. Der lampenschirm wirkt wie ein neugieriger Kopf, die Gelenke wie Ellbogen und Handgelenke. Es ist diese fast menschliche Qualität, die Jahrzehnte später die Animatoren von Pixar dazu inspirierte, ihre kleine, hüpfende Lampe „Luxo Jr.“ zum Firmenmaskottchen zu machen. Die Anglepoise war nicht nur ein Werkzeug; sie war ein Mitbewohner.

Ihre Bewährungsprobe bestand die Lampe unter den härtesten Bedingungen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie zur Standardausrüstung in britischen Bombern. Navigatoren verließen sich auf ihr präzises, vibrationsfestes Licht, um Karten in der Dunkelheit zu lesen. Man sagt, dass in einem abgestürzten Wellington-Bomber, der später aus dem Loch Ness geborgen wurde, die Anglepoise-Lampe immer noch funktionierte, nachdem sie an eine neue Batterie angeschlossen wurde. Diese Robustheit zementierte ihren Ruf als unverwüstliches Stück britischer Ingenieurskunst.

Auch nach dem Krieg blieb der Erfolg ungebrochen. Die Anglepoise wanderte von der Werkbank auf den Schreibtisch von Schriftstellern wie Roald Dahl, der in seiner Schreibhütte unter ihrem Licht seine fantastischen Geschichten spann. Sie wurde zum Symbol für konzentrierte Arbeit und kreatives Schaffen. Architekten, Zeichner und Studenten schworen auf das blendfreie, richtbare Licht, das genau dort landete, wo es gebraucht wurde, ohne Schattenwurf der eigenen Hand.

Heute, fast ein Jahrhundert nach Carwardines ersten Experimenten, hat sich an der grundlegenden Mechanik kaum etwas geändert. Zwar gibt es mittlerweile riesige Stehleuchten im Anglepoise-Stil und winzige Versionen für den Nachttisch, doch das Herzstück bleibt die geniale Balance der Federn. In einer Welt, die von digitaler Technologie und Touchscreens dominiert wird, hat das taktile Erlebnis, eine Anglepoise-Lampe in Position zu ziehen, nichts von seiner Faszination verloren. Es ist eine haptische Erinnerung daran, dass gutes Design zeitlos ist und dass die Lösung für ein komplexes Problem manchmal einfach eine Frage der richtigen Balance ist.