
Das flüssige Feuer: Georges Claude und die Neon-Revolution
Paris, Dezember 1910. Im Grand Palais herrscht reges Treiben. Die Besucher des Pariser Automobilsalons erwarten technische Wunderwerke aus Stahl und Chrom, doch was die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist kein Fahrzeug. Über den Köpfen der Menge leuchten zwei zwölf Meter lange Glasröhren in einem intensiven, fast übernatürlichen Rot-Orange. Es ist ein Licht, das niemand zuvor gesehen hat – kein flackerndes Gaslicht, kein gelblicher Schein eines Kohlefadens. Es wirkt wie „flüssiges Feuer“, das in Glas gefangen ist. Der französische Ingenieur und Chemiker Georges Claude hat soeben die Neonbeleuchtung der Weltöffentlichkeit vorgestellt und damit den Grundstein für die Ästhetik des 20. Jahrhunderts gelegt.
Die Geschichte dieser Erfindung beginnt eigentlich mit einem Abfallprodukt. Georges Claude suchte nach Wegen, die Gase wirtschaftlich zu nutzen, die bei der Verflüssigung von Luft übrig blieben. Eines dieser Nebenprodukte war Neon, ein Edelgas, das erst wenige Jahre zuvor von den Briten William Ramsay und Morris Travers entdeckt worden war. Claude fand heraus, dass dieses träge Gas, wenn man es in einer versiegelten Röhre unter niedrigen Druck setzte und eine elektrische Spannung anlegte, in einem charakteristischen, leuchtenden Rot erstrahlte. Anders als der Glühfaden von Thomas Edison, der durch Hitze leuchtete, war dies eine „kalte“ Entladung. Das Licht entstand durch die Anregung der Gasatome selbst.
Doch der Weg vom wissenschaftlichen Kuriosum zum kommerziellen Erfolg war nicht ohne Hindernisse. Claudes erste Versuche, das Neonlicht als Innenraumbeleuchtung zu vermarkten, scheiterten kläglich. Die Farbe war zu intensiv, zu unheimlich für Wohnzimmer, und das Licht ließ Gesichter fahl und kränklich wirken. Claude erkannte jedoch schnell, wo das wahre Potenzial seiner Erfindung lag: in der Werbung. Die Leuchtkraft und die Möglichkeit, die Glasröhren in Buchstaben und Formen zu biegen, machten Neon zum perfekten Medium, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Der wirkliche Durchbruch gelang der Technologie, als sie den Atlantik überquerte. 1923 verkaufte Claudes Firma zwei riesige Neonschilder an einen Packard-Autohändler in Los Angeles, Earle C. Anthony. Als die blauen und orangen Buchstaben „Packard“ in der kalifornischen Nacht aufleuchteten, verursachten sie Berichten zufolge Verkehrsstaus. Passanten blieben stehen und starrten auf das „flüssige Feuer“. Es war der Moment, in dem Neon zum Synonym für Modernität, Dynamik und den amerikanischen Traum wurde.
In den folgenden Jahrzehnten veränderte Neon das Gesicht der Städte weltweit. Der Broadway in New York und später der Las Vegas Strip wurden zu Kathedralen des künstlichen Lichts. Neonreklamen blinkten, bewegten sich und erzählten Geschichten in Licht. Sie wurden zum visuellen Soundtrack des Jazz-Zeitalters und später zum unverzichtbaren Element des Film Noir, wo das flackernde Neonschild oft Symbol für Einsamkeit und das urbane Nachtleben war. Durch die Zugabe anderer Gase und Beschichtungen der Röhren erweiterte sich die Farbpalette bald über das ursprüngliche Rot hinaus zu Grün, Blau, Gelb und Weiß.
Obwohl die Neonröhre im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert zunehmend durch effizientere und robustere LED-Technik verdrängt wurde, hat sie nichts von ihrer Faszination verloren. Künstler wie Dan Flavin erhoben die leuchtende Röhre in den 1960er Jahren zur Kunstform, und heute erleben echte Neonreklamen eine Renaissance als nostalgische Designobjekte. Georges Claudes Erfindung war mehr als nur eine neue Lichtquelle; sie war eine Erfindung, die die Nacht in eine Leinwand verwandelte und uns beibrachte, das Dunkel nicht nur zu erhellen, sondern es bunt zu färben.