Lichtgeschichten

Einblicke in zwei Jahrhunderte Lichttechnik und Beleuchtung

Die Zähmung des elektrischen Lichts: Poul Henningsen und seine Philosophie der blendfreien Beleuchtung
Sonntag, 16. November 2025

Die Zähmung des elektrischen Lichts: Poul Henningsen und seine Philosophie der blendfreien Beleuchtung

Kopenhagen in den 1920er Jahren: Die Welt befand sich in einem dramatischen Umbruch. Die Nächte, die jahrhundertelang vom sanften, warmen Schimmer der Petroleumlampen und Kerzen erhellt wurden, wichen plötzlich dem grellen, unbarmherzigen Schein der elektrischen Glühbirne. Während die meisten Menschen diese neue Technologie als Zeichen des Fortschritts feierten, sah ein Mann darin ein ästhetisches Desaster. Dieser Mann war Poul Henningsen, ein dänischer Architekt, Kritiker und Designer, der es sich zur Lebensaufgabe machte, das elektrische Licht zu „zähmen“.

Die Sehnsucht nach dem weichen Licht

Poul Henningsen, oft einfach nur „PH“ genannt, wuchs im weichen Schein der Petroleumlampe auf. Er empfand das Licht der damals neuen elektrischen Glühbirnen als roh und aggressiv. Die Schatten waren zu hart, die Kontraste zu stark, und der direkte Blick in den glühenden Draht war schmerzhaft für die Augen. Henningsen erkannte früh, dass die Ingenieure zwar eine effiziente Lichtquelle geschaffen hatten, aber niemanden, der sich darum kümmerte, wie dieses Licht den menschlichen Raum formte. Seine Mission war geboren: Er wollte eine Leuchte konstruieren, die die Vorteile der Elektrizität nutzte, aber die Qualität des Petroleumlichts bewahrte.

Mathematik trifft Design: Das Dreischirmsystem

Im Gegensatz zu vielen anderen Designern seiner Zeit, die sich primär auf die dekorative Gestaltung des Leuchtenkörpers konzentrierten, näherte sich Henningsen dem Problem wissenschaftlich. Er verbrachte Nächte damit, Lichtstrahlen zu berechnen und Reflexionswinkel zu analysieren. Sein Durchbruch gelang ihm mit der Anwendung der logarithmischen Spirale. Diese mathematische Kurve bildete die Grundlage für sein revolutionäres Dreischirmsystem.

Die Idee war genial in ihrer Einfachheit und komplex in ihrer Ausführung: Durch die Anordnung von drei konzentrischen Schirmen, die in einem exakt berechneten Verhältnis zueinanderstanden, gelang es ihm, das Licht der Glühbirne zu brechen und zu lenken. Das Ergebnis war eine Leuchte, die das Leuchtmittel selbst aus jedem Blickwinkel verdeckte. Das Licht wurde nicht einfach in den Raum geworfen, sondern über die geschwungenen Oberflächen der Schirme sanft nach unten und zur Seite reflektiert. Es war die Geburtsstunde des blendfreien Lichts.

Der Triumph in Paris und die Geburt einer Ikone

Im Jahr 1925 präsentierte Henningsen seine erste Leuchte mit diesem System auf der Weltausstellung in Paris – und gewann prompt die Goldmedaille. Doch das war erst der Anfang einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit dem Beleuchtungshersteller Louis Poulsen. Über die Jahre verfeinerte PH sein System immer weiter, passte es an verschiedene Bedürfnisse und Räume an, von der Tischleuchte bis zum monumentalen Kronleuchter.

Der wohl berühmteste Vertreter seiner Philosophie entstand jedoch erst viel später, im Jahr 1958: die PH 5. Sie war Henningsens Antwort auf die sich ständig ändernden Formen und Größen der Glühbirnenhersteller, die ihn zur Verzweiflung brachten. Die PH 5 war so konstruiert, dass sie mit fast jedem Leuchtmittel funktionierte. Doch Henningsen ging noch einen Schritt weiter. Da er bemerkte, dass das elektrische Licht oft einen kühlen, gelb-grünen Stich hatte, integrierte er kleine rote und blaue Reflektoren im Inneren der Leuchte. Diese sollten das Licht farblich korrigieren und dem warmen Spektrum des Tageslichts – oder eben der guten alten Petroleumlampe – näherbringen.

Ein Erbe, das weiterleuchtet

Poul Henningsens Arbeit war mehr als nur Produktdesign; es war Lichtarchitektur. Er verstand, dass Licht nicht nur dazu da ist, Dunkelheit zu vertreiben, sondern dass es Stimmung erzeugt, Räume definiert und unser Wohlbefinden beeinflusst. Seine Leuchten sind keine bloßen Dekorationsgegenstände, sondern präzise Instrumente zur Lichtverteilung.

Heute, fast ein Jahrhundert nach seinen ersten Experimenten, gelten die PH-Leuchten als Inbegriff des dänischen Designs. Sie hängen in Wohnzimmern, Museen und öffentlichen Gebäuden auf der ganzen Welt. Sie sind zeitlos, nicht weil sie modisch sind, sondern weil sie eine fundamentale menschliche Sehnsucht bedienen: den Wunsch nach einem Licht, das nicht blendet, sondern wärmt. In einer Zeit, in der wir von LED-Screens und Neonreklamen umgeben sind, ist Henningsens Philosophie der „Lichtkultur“ aktueller denn je.